Größe und Grenze der Demokratie. Über die Kunst, Komplexität zu zerlegen, ohne dabei den Verstand zu verlieren
Abstract
I. Leitende Frage:
Wie können Demokratinnen und Demokraten mehr Kontrolle über komplexe soziale und natürliche Verhältnisse gewinnen - mit dem Ziel einer stärkeren und gleicheren Chance der Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben?
II. Begriffe:
1. Demokratie = Regierung über das Volk, durch das Volk, für das Volk (=Gettysburg-Formel).
Ein Ziel demokratischer Politik:
Jede Bürgerin soll die gleiche Chance haben, Einfluss auf die gesellschaftspolitisch gezogenen Rahmenbedingungen zu nehmen, unter denen sie ihr Leben eigenverantwortlich führen muss.
(= Ziel einer größeren und egalitäreren Schicksalskontrolle durch demokratische Politik.)
2. Größe und Komplexität:
„Größe der Demokratie“ = Anzahl verschiedenartiger Mitglieder einer Bürgerschaft = numerische Form von Komplexität.
Komplexität = ein Maß für mögliche Zustände und Geschehnisabfolgen eines Gebildes/einer Entität in Abhängigkeit von kausal relevanten Faktoren für solche Zustände und Geschehnisabfolgen.
Beispiele: Gewässer als Biotop für Fischpopulation; Warenproduktion mit globalen Lieferketten („Global Value Chains“, GVCs).
3. Grenzen = Blockaden bzw. Unterbrecher von kausalen Ketten oder von kommunikativen Anschlüssen.
Beispiele: Blut-Hirn-Schranke; rechtliche Haftungshürden; Regeln für den Marktzugang; Sinngrenzen;
III. Thesen:
4. Regierbarkeit = Steuerbarkeit wird wahrscheinlicher durch die Neutralisierung bestimmter Kausalitäten und bestimmter kommunikativer Anschlüsse.
5. Die Zerlegung von komplexen politischen und wirtschaftlichen Gebilden in ihre Teilsysteme dient bei Wolfgang Streeck (=WS) auch der demokratischen Regierbarkeit mit dem Ziel unter Nr. 1.
6. Man muss bei einem komplexen Gebilde zwischen horizontalen und vertikalen Beziehungen unterscheiden:
Die horizontale Beziehung ist eine Beziehung der Erbringung/Nicht-Erbringung einer Leistung eines Teils für einen anderen Teil.
Z.B. sollen die Nieren die Leistung erbringen, Flüssigkeit aus dem Teilsystem „Blutkreislauf“ abzuziehen. Das Bildungssystem soll – in einem Verständnis - die Ausbildung von Arbeitskräften für das Wirtschaftssystem leisten.
Die vertikale Beziehung ist eine Beziehung der Erfüllung/Nicht-Erfüllung einer Funktion eines Teilsystems für das Gesamtsystem.
Z.B.: Die Herzkammern haben die Funktion, Blut in einem Kreislauf in den gesamten Organismus zu pumpen. Das Teilsystem „Politik“ hat – nach N. Luhmann – die Funktion, Regelungen für eine Gesellschaft mit einer effektiven Autorität auszustatten.
7. „Beinahe-Zerlegbarkeit“ („Near Decomposability“, Herbert A. Simon) eines komplexen Gebildes schließt aus, dass die vertikale Beziehung beseitigt werden kann. Es ist nicht ganz klar, ob es für WS nach der Zerlegung eines komplexen Systems noch eine vertikale Beziehung gibt.
8. Das Mehr an Kontrolle über komplexe Zusammenhänge kann durch die Unterbrechung von Kausalketten und von kommunikativen Anschlüssen erreicht werden.
Ex.
--Eine individuelle Privatsphäre (mit einer stärkeren Achtsamkeit auf das eigene Seelenleben) kann erhöht werden durch die Unterbrechung eines kommunikativen Anschlusses. (Cf. Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein.)
--Ökonomische Kaskadeneffekte auf dem Finanzmarkt können durch die Begrenzung von Schuldenhebeln („leverage ratio“) oder des Volumens sehr kurzfristiger Kredite blockiert werden.
--Produktionsausfälle wegen gestörter Lieferketten können durch Verkürzung von Lieferketten vermindert werden („inshoring“, „nearshoring“).
9. Der Abbau von Komplexität durch Unterbrechungen von Kausalketten und von kommunikativen Anschlüssen ist kein Königsweg zu einem Mehr an wünschenswerter Kontrolle.
Ex. „Inshoring“ kann mit einer geringeren Diversifizierung der Bezugsquellen für Güter erkauft werden.
10. WS versteht Zerlegung von Komplexität nicht bloß als Abbau von Komplexität, sondern als Umbau: Weniger Komplexität zwischen Teilsystemen (z.B. zwischen Wirtschaftsräumen, zwischen Nationalstaaten, zwischen Koalitionen der Willigen) und mehr Komplexität: mehr Interaktion innerhalb der Teilsysteme.
Der Abbau und „Aufbau von Komplexität“ (Leon Wansleben) passt gut zu einer Ermöglichungsbedingung für kollektives Handeln: sichtbare Reziprozität = die Zurechenbarkeit von kooperativen Handlungsbeiträgen in einer Kollektivgutpraxis. Diese Zurechenbarkeit von kooperativen Beiträgen kann nicht mit jeder sozialen Größe mithalten, verlangt also Größenbegrenzung von Kollektiven, z.B. durch Zerlegung komplexer Kollektive.
11. Ein Folgeproblem bei dieser Begrenzung ist des Aktionsradius der Kollektive: Wie kann ein zerlegtes, polyzentrisches Staatensystem mit der Kontrolle von Komplexität zurechtkommen, die ein überstaatliches kollektives Handeln verlangt? Die Antwort ist bei WS etwas unklar.
Das Problem wird z.B. sichtbar bei der Politik von Kollektivgütern.
Ex. Bewahrung des unreinen globalen Kollektivgutes einer CO2--Senke wie des Yasuni-Regenwaldes in Ecuador, unter dem ein großes Erdölvorkommen liegt. (Cf. „Yasuni-ITT-Initiative“.) Show more
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Wege aus dem Kapitalismus?Pages / Article No.
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NomosSubject
Democracy; Nation-State; De-Globalization; Complexity; Complex systems; CommonsOrganisational unit
03783 - Wingert, Lutz (emeritus) / Wingert, Lutz (emeritus)
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